“Musikalische Frischzellenkur”, LIPPE aktuell 4. September 2013

Hörfest Neue Musik mit vielfältigen Kunstklangproduktionen

  • Detmold (kh). Nein. Nein, die Musikgeschichte endet nicht mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Auch wenn man beim Blättern in Programmvorschauen fast glauben möchte, dass seitdem nichts Neues komponiert worden sei. Ein Eindruck, der allerdings letztlich wohl eher der Tatsache geschuldet ist, dass viele Veranstalter davor zurückschrecken, ihrem Publikum „Neue Musik“ zu kredenzen.

    Und doch gibt es sie: jene Menschen, die keine Scheu haben, sich in moderne Klanggewänder unterschiedlichster Provenienz zu kleiden und die leidenschaftlich gerne musikalische Konventionen knacken. Hans Timm von der Initiative Neue Musik in Ostwestfalen-Lippe, Prof. Jörg-Peter Mittmann, Komponist und Leiter des Ensembles Horizonte sowie Hajdi Elzeser und Yoana Varbanova vom ArtWork-Ensemble sind zum Beispiel vier von jenen Enthusiasten, die ständig auf der Suche nach Neuem sind. Genauer gesagt: nach neuem Klang. Zur Verbreitung und zum Verständnis der Gegenwartsmusik beizutragen – das hat sich die Initiative Neue Musik auf die Fahnen geschrieben. Und mit dem „Hörfest Neue Musik“ eine Plattform geschaffen, die auch Skeptikern den Zugang zu ungewohnten Klängen ermöglichen soll. In der nunmehr vierten Auflage organisieren die Botschafter für Neue Musik das Festival. Unter dem Motto „Mythos und Moderne“ wird es in der Zeit vom 27. bis 29. September über die Bühne gehen.

    Mythos und Moderne: zwei gegensätzliche Begriffe? Die Musik im Spannungsverhältnis alter Mythen und deren moderne Aneignung bringe eine Archaik jenseits eines klassizistischen Ideals zum Ausdruck, erläutert Mittmann. So wie Komponisten der vergangenen Jahrhunderte immer wieder aus dem reichen Fundus mythischer Bilder schöpften, regten diese auch Zeitgenossen zum Erarbeiten ungewöhnlicher Klangfarben an. „Es ergibt sich ein Dialog zwischen Tradition und Moderne“, sagt Mittmann. Oft zitiere ‚Neue Musik’ ‚Alte Musik’. Nicht immer sei die Suche nach neuen Klängen oder musikalischen Formen ein Bruch mit alten Traditionen, sondern teils auch deren Fortführung oder Erneuerung mit anderen Mitteln. Vom rein Rationalen, das der Neuen Musik so gerne unterstellt werde, komme es zu einer Rückwendung hin zum Emotionalen. Und Hans Timm ergänzt: „Es kommt Musik zur Aufführung, die jedem etwas bietet. Wir veranstalten kein Insider-Treffen.“ Schließlich ist es den Initiatoren ein Anliegen, neue Klangwelten vermitteln, ohne einen Hörer, dessen Ohr klassisch geschult sein mag, zu überfordern.

    Für diejenigen, die sich nun voller Neugier auf den spannenden Prozess einlassen wollen, Eroberungszüge in wenig vertraute Klangwelten zu unternehmen, haben die Initiatoren ein reichhaltiges Programm zusammengestellt. An verschiedenen Spielstätten ist das Publikum zu musikalischen Reisen eingeladen, die die Farbigkeit und Frische zeitgenössischer Musik auf besondere Weise hörbar machen. Reisen, die Lust machen auf einen Besuch im vermeintlichen Elfenbeinturm der mit großem „N“ geschriebenen Neuen Musik.

    Acht Konzerte sind beim diesjährigen Hörfest Neue Musik zu erleben. Darunter auch vier ganz nagelneue Werke. Neue Neue Musik sozusagen. Eine der Uraufführungen: Jörg Peter Mittmanns Komposition „Dem Himmel entgegen“. In diesem Tuttiprojekt für Sprecher, Sänger und Instrumentalisten sind neben den professionellen Künstlern auch Laien zur Teilnahme aufgefordert: „Denn eine der besten Möglichkeiten, den Hörern Neue Musik näher zu bringen, ist, sie aktiv einzubinden“, weiß der Komponist.

    Daneben werden eine Vielzahl von Künstlern und Ensembles mit Werken zu hören sein, die so vielversprechende Namen wie „Sumpfgesang“, „Erosfragmente“, „The snow has no voice“ oder „The Crown of Ariadne“ tragen. Auch Musiker des Landestheaters werden mit einem Kammerkonzert am Hörfest beteiligt sein. Darüber hinaus sind vier Gottesdienste, in denen Orgelmusik des 20. Jahrhunderts in den Fokus gerückt wird, im Programm integriert worden. Und am Sonntag, 29. September heißt es um 16 Uhr: „Hinter die Kulissen geschaut“. Prof. Johannes Fischer (Schlagzeug) lässt sich beim Instrumenten- und Soundcheck im Hangar 21 über die Schulter blicken.

    Für alle, die nicht mehr bis zum Auftaktkonzert des Hörfestes warten wollen oder nach dem Abschlusskonzert noch nicht genug haben, gibt es – wie auch in den zurückliegenden Jahren in zeitlichem Abstand zum eigentlichen Festival – einen Prolog, der Werke für Blockflöte ins Zentrum stellt sowie einen Epilog. Ihn gestaltet das Ensemble Horizonte in der Abtei Marienmünster. Der Eintritt zu allen Konzerten ist frei. Nähere Informationen und der genaue Programmablauf sind abrufbar auf der Website der Initiative Neue Musik in Ostwestfalen- Lippe „www.initiativeneue- musik-owl.de“.

    Mitmachen …
    Teilnehmer für Uraufführung gesucht

    Detmold (kh). In den Mythen verschiedener Kulturen finden sich Erzählungen von Menschen, die von Übermut und Ehrgeiz getrieben dem Himmel entgegen streben. Zu diesem Thema hat Jörg-Peter Mittmann eigens für das Hörfest eine Komposition geschrieben: „Dem Himmel entgegen“. Das Werk bietet auch Platz für kreative Beiträge von Laien. Mittmanns Wunsch ist es, dass sich neben zwei Schülergruppen auch eine Erwachsenengruppe mit einem kurzen Beitrag an der Realisierung seiner Komposition beteiligt. Dafür sind keine musikalischen Vorkenntnisse erforderlich. Den instrumentalen Rahmen liefern die teilnehmenden professionellen Künstler des Hörfestes.

    Zwei Proben hat der Komponist dafür vorgesehen: Die erste findet am Mittwoch, 18. September um 19 Uhr in der Klangwerkstatt Detmold (Gerichtsstraße 8) statt. Eine weitere Probe, bei der alle Beteiligten zusammenkommen, ist am Samstag, 28. September um 10 Uhr im Hangar 21 geplant. Um 21 Uhr geht die Aufführung über die Bühne. Interessenten haben die Möglichkeit, sich per E-Mail anzumelden „info@initiative-neuemusik- owl.de". Die Teilnahme ist kostenlos.

“Mythos trifft Moderne”, Lippische Landes-Zeitung 17. Juni 2013

Veranstalter feilen am Programm für das vierte „Hörfest Neue Musik“ in Detmold

  • Von Barbara Luetgebrune

    Es soll den Lippern Lust auf zeitgenössische Klänge machen: das „Hörfest Neue Musik". Für September planen die Macher die vierte Aufl age des Festivals. Das Motto lautet „Mythos und Moderne".

    Detmold. Zwei gegensätzliche Begriffe, die das Spannungsfeld fürs Hörfest abstecken: „Wir möchten beleuchten, wie die Moderne, die ja immer nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten sucht, mit den alten Mythen umgeht, die die Basis unserer Kultur bilden", sagt Dr. Jörg-Peter Mittmann von der Initiative „Neue Musik OWL", die das Hörfest konzipiert und veranstaltet. Zeitgenössische Komponisten griff en als Themen für ihre Werke nicht selten Mythen auf. Mittmann, Prof. Martin Christoph Redel und Hans Timm konnten bei der Programmgestaltung also aus einem großen Fundus an Kompositionen schöpfen. Auch das Thema Märchen spiele in diesem Kontext eine Rolle.

    Acht Konzerte stehen an den drei Festival-Tagen vom 27. bis 29. September auf dem Plan, die meisten finden im Hangar 21 statt. „Der Hangar eignet sich gut zur Aufführung Neuer Musik, auch weil man ihn so vielfältig gestalten kann“, sagt Timm. So werden im Abendkonzert am 28. September die Solisten ihre Stücke an unterschiedlichen Positionen im Hangar zu Gehör bringen.

    Dazu kommen Gottesdienste, in denen ebenfalls Neue Musik erklingen soll, außerdem ein Prolog und ein musikalisches Nachspiel in etwas zeitlichem Abstand zum Hörfest. „Zwei Werke haben wir eigens in Auft rag gegeben“, berichtet Redel. Die Kompositionen von Jean-Luc Darbellay und Miro Dobrowolny kommen im Auftaktkonzert am 27. September in der Martin-Luther-Kirche zur Uraufführung. Auch Mittmann schreibt ein Stück speziell für die besondere Klangsituation im Hangar. Es soll als Tuttiprojekt aufgeführt werden, an dem interessierte Lipper teilnehmen können (Details siehe Unten).

    Das Landestheater beteiligt sich wieder mit einem Kammerkonzert am Hörfest; das „ArtWork Ensemble“ präsentiert George Crumbs „Music for a summer evening“ für zwei Klaviere und Schlagzeug – „ein großartiges Werk, das allen Beteiligten Höchstleistungen abverlangt“, so Redel. Im Nachmittagskonzert am Samstag schlagen die Veranstalter den Bogen von der Musik zum Tanz: Zwei Tänzer setzen die Klänge in Choreografien um.

    An Samstag ist zudem Musik des Kompositions-Professors der Detmolder Musikhochschule, Fabien Lévy, zu hören. Und das Abschlusskonzert gestaltet der hochkarätige Schlagzeuger Johannes Fischer, der im Hangar ein ganzes Arsenal an Percussionsinstrumenten aufbauen wird.

    Der Prolog eine Woche vor dem Hörfest ist überwiegend der Blockflöte gewidmet; den Epilog am 20. Oktober gestaltet das Ensemble Horizonte mit einem Konzert in Marienmünster, das vom WDR aufgezeichnet wird.

    Lippische Landeszeitung, 17. Juni 2013

    Mitmachen
    Den Hörern Neue Musik näher bringen: Das versuchen die „Macher" auf verschiedenen Wegen. Zum einen setzen sie auf den Austausch zwischen Zuhörern, Musikern und den Komponisten, die anreisen werden. Ein anderer Weg: Menschen aus der Region aktiv einzubinden. Das soll in dem Tuttiprojekt von Dr. Jörg-Peter Mittmann passieren. „Dem Himmel entgegen" ist es überschrieben und wird am 28. September im Hangar uraufgeführt. Dafür sucht der Komponist noch Menschen, die Lust haben als Sprecher und Sänger mitzuwirken. „Die Teilnehmer müssen keine Noten lesen können, sie sollten nur in der Lage sein, einen Ton abzunehmen und zu halten", sagt Mittmann. Kontakt: info@ensemblehorizonte.de.

“Voller Abgründe und Beschwörungen”, NMZ November 2013

Hörfest Neue Musik gelingt besondere Art der Musikvermittlung

  • Ein Artikel von Andreas Schwabe
    Ausgabe: 11/2013 - 62. Jahrgang

    (nmz) - „Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder …“, sangen Kinder der Detmolder Freiligrath-Grundschule aus dem bekannten Volkslied „Der Mond ist aufgegangen“ am Ende der Komposition „Dem Himmel entgegen“ von Jörg Peter Mittmann, die den zweiten Abend des diesjährigen Hörfestes Neue Musik im Hangar 21 abschloss.

    Mit dieser erstmals gespielten Komposition für großes Ensemble und Projektchor traf Mittmann in zweifacher Weise mitten ins Herz des Themas „Mythos und Moderne“ des 4. Hörfestes der „Initiative Neue Musik in Ostwestfalen-Lippe“. Zum einen warf er in kompositorisch wohldurchdachter Form die Frage nach den Eckpunkten menschlicher Welterfassung auf, zum anderen – und vielleicht noch wichtiger – gelang ihm eine Form der Musikvermittlung, die vor allem den Beteiligten einen sicherlich sehr nachhaltig wirksamen Zugang zu einer Musik verschaffte, von der sie bisher gar nichts wussten oder die sie unbewusst (etwa als Filmmusik in Krimis) als ängstigend, unverständlich und also blöd wahrgenommen hatten.

    „Die Kinder waren wie hypnotisiert“, erzählt die Grundschullehrerin Margarete Hentschel. „Das klang am Anfang wie Wetter“, sagt eine Schülerin aus dem Jugendchor des Grabbe-Gymnasiums (Ltg. Kirsten Fernandez) mit leuchtenden Augen. Ein anderer Schüler greift zur Partitur, um dem Reporter zu zeigen, dass „die Musik doch ganz klar war“. Gleich nach den Sommerferien hatten die Gruppen begonnen, etwa Gestalten der „Sprachverwirrung“ zu üben, eines der Motive, die Mittmann aus dem Mythos vom Turmbau zu Babel entleiht, den er ästhetisch in eine auch deshalb überzeugende Form bringt, weil er quasi die Schöpfung von Haydn umkehrend, seine Musik von einer nur diffus scheinenden Ordnung in eine große Frage hineinstürzen lässt.

    Die Spannung von Mythos und Moderne durchzog das Festival, dessen Eröffnung mit dem „Ensemble Horizonte“ in der Detmolder Martin-Luther-Kirche gleich drei weitere Uraufführungen bot. Beschworen wurde da die Verschränkung von mythologischer Erzählung und rationaler Welterklärung, wie sie Theodor W. Adorno in seiner Dialektik der Aufklärung auf den Begriff brachte. Diese Spannung bestimmte in ganz unterschiedlicher Weise die Stücke von Jean-Luc Darbellay, Miro Dobrowolny, Benjamin Schweitzer und Valerio Sannicandro, der das Ensemble inspiriert leitete.

    Wie Neue Musik über ihre innere Logik hinaus die Gefühle der Zuhörer spontan ansprechen kann, bewies die luzide Wiedergabe von Salvatore Sciarrinos „Lo spazio inverso“.

    Auf die Musiker des „Ensemble Horizonte“ folgte am Samstag vor der imposanten Kulisse der alten Flugzeughalle Hangar 21 das „Artwork Ensemble“ mit einer ebenso authentischen und daher überzeugenden Interpretation von George Crumbs „Music for a summer evening“. Der allzu harmlose Titel steht für ein Werk voller Abgründe und Beschwörungen.

    Welche Entwicklung war die wichtigste in der Musik des 20. Jahrhunderts: die Emanzipation der Dissonanz oder die des Rhythmus? Darauf gab der Schlagwerker Johannes Fischer am Sonntagabend eine eindeutige Antwort. Und brachte einen weiteren Aspekt ins Spiel: Zur Emanzipation von Dissonanz (Arnold Schönberg) und Rhythmus (Igor Strawinsky) kommt die Emanzipation des Geräusches (John Cage), das heißt, das bloße Geräusch, also nicht mehr der geformte Klang, wird zur Musik. Mit diesem Schritt vollzieht die Musik etwas, was in der Bildenden Kunst etwa die Konzeptkunst repräsentiert. In der Bildenden Kunst löste die Idee den Künstler zudem von jeder Form handwerklicher Virtuosität. Die blieb in der Musik aber immer erhalten.

    Fischer konnte seine Zuhörer deshalb davon überzeugen, dass man auf einem Kaktus, auf irgendwelchen Nussschalen oder mit Reisigbüscheln improvisieren kann, weil er über eine atemberaubend virtuose Spieltechnik verfügt. John Cage hat sich sein „Child of Tree“ einfallen lassen, damit der Musiker keine eingeübten Schlagfolgen als Improvisation vortäuscht. Es bleibt fraglich, ob dieses Ziel überhaupt erreichbar ist. Fischers fulminantem Erfolg tat diese Frage indes keinen Abbruch. Er begeisterte mit Klangphantasie: In einer Eigenkomposition entlockte er der kleinen Trommel richtige Töne, indem er etwa aus kürzester Distanz auf das Fell pustete, oder es mit einem Rasierapparat in klingende Schwingungen versetzte. Das war kein Performanceblödsinn, sondern richtige Musik.

    Die meisten Besucher kamen bereits am Nachmittag in den Hangar, um Caroline Lusken und Gaëtan Chaily zu Musik von Maurice Ravel und André Jolivet tanzen zu sehen. In Jolivets „Chant de Linos“ verbanden sich Elemente des Modern Dance mit dem mythischen Ritual einer in Asche vollzogenen Totenklage.

    Musiker des Landestheaters hatten schon am Vormittag zu einer hochinteressanten Matinee eingeladen, in der Dorothea Geipel mit feinsinnigen Rezitationen den Zuhörern im Theaterfoyer einen sehr berührenden Zugang zu Neuer Musik ermöglichte. Die moderne Lautmalerei der Annette Schlünz in ihrer Komposition „The snow has no voice“ war hier neben „Voice“ für Flöte solo von Toru Takemitsu die herausragende Entdeckung.

    Ein Novum des diesjährigen Hörfests: Mit etwas zeitlichem Abstand werden die Uraufführungsstücke des Eröffnungskonzerts im Ambiente des Klos-ters Marienmünster in einem WDR-Konzert vom Ensemble Horizonte erneut vorgestellt – ein Epilog, der Gelegenheit bietet, Eindrücke zu festigen oder zu revidieren.

    https://www.nmz.de/artikel/voller-abgruende-und-beschwoerungen